Spurensuche 1 – 1150 Wien – Haleakala !

68 Tage ist es her, seitdem Du gegangen bist.
Meine liebe 68 Revoluzzerin. Dein Geburtsjahr.

An diesem Donnerstagmorgen in Wien, gehe ich los. Schritte, um meiner Unruhe etwas entgegen zu setzen. Ich gehe los, gehe in deine Richtung. Wie ich so oft dich in deiner Wohnung besuchen ging, als Du noch in Wien wohntest, als Du noch da warst. Als Du noch in meinem Leben warst. Wir unsere Leben miteinander teilten.

Gestern Nachmittag, bekam ich einen Anruf, ich stand gerade vor dem Basketball-Käfig, in dem die Kinder aus der Nachbarschaft Fußball spielten. Kreischen und Quieken in hohen Stimmlagen. „Wie geht es eigentlich deiner Freundin in Frankreich?“ , sagte meine Bekannte. Es fühlte sich schon sehr lange her an, als ich mich sagen hörte, „oh, sie ist vor Weihnachten gestorben.“ Ich sagte es ganz ruhig, ohne Emotion, mein Gegenüber, ein Frau, die dieses Jahr 80 Jahre alt wird, sagte, voller Mitgefühl, aber auch sehr ruhig, es tue ihr sehr leid. Und dass es für sie besser war, eine Erleichterung.“ Ich sehe das Spitalszimmer vor mir, den ewigen Nieselregen in Rennes, die Möwen, die die Stadt mit ihren Schreien durchziehen. Ja, eh. Was soll man dazu sagen.
Wir redeten über den Tod, der auf uns alle in unserem Leben zu kommt. Sie erzählte von einer Freundin, mit der sie mehrmals die Woche joggen geht, um fit zu bleiben, und die auch starb. Und wie nah der Tod dann an einen rückt. Ich sage, dass einzig Gute war, dass wir uns seit ihrer Krankheit so oft gesehen haben, wie die letzten zehn Jahre vorher nicht. Wir reden über den Wert von Freundschaft, die guten Freunde im Leben, die man längere Zeit nicht sieht, und wenn man sie sieht, ist es als wäre keine Zeit vergangen.
Ja, so war es mit Dir.

Am Mittwoch Nachmittag war ich ruhig und abgeklärt.

Über Nacht braute sich in mir was zusammen, ein Konvolut an Emotionen. Unruhe, Unverständnis, Ratlosigkeit, Wut, Trauer, Schuldgefühl.

Der Donnerstag Morgen also, ich gehe in den 15.Bezirk von Wien und statte deiner früheren Wohnung in der Karmeliterhofgasse einen Besuch ab.

Ich stehe mehrere Minuten vor deinem Haus. Du würdest dich wundern. Du hast in den über 10 Jahren nach deinem Umzug nach Frankreich, nie mehr in dieser Gegend vorbei geschaut. „Warum auch? Geh, Sophie, das ist vorbei. Ist nicht mehr wichtig!“
Du warst kein sentimentaler Typ. Anders als ich.

Du warst pragmatisch und analytisch. Du konntest wunderbar denken. Die Dinge behirnen, bis du es ganz durchschaut hattest. Wunderbar uns durch deine Fragen auch in eine Klarheit führen. Ich vermisse diese Einsichten so sehr. Unsere Gespräche.

Du bekamst diese Wohnung von einem Onkel vererbt. Er war Pfarrer in Wien. Und er kaufte diese Wohnung ursprünglich für eine Freundin. Ihr war sie zu klein. Und dann bekamst du sie. Du pflegtest diese Wohnung. Sie war eine Perle in diesem großen, etwas heruntergekommenen Haus. Hier gibt es noch Klos am Gang, und das Stiegenhaus roch meistens feucht und schmutzig und nach kaltem Rauch. Und manchmal konnte man deuten, wenn dein Nachbar am Klo gewesen war. Der Nachbar, den ich nie gesehen habe, nur gehört. Seinen Fernseher, wenn er telefonierte und sein Husten. Er war ein starker Raucher.

Betrat man deine Wohnung, fühlte es sich sofort warm und geborgen an. Auf deinem großen orangenen Teppich war immer etwas vorbereitet. Bratkartoffel und Oliven. Datteln vielleicht. Der Klang starker Frauenstimmen erfüllte den Raum. Du warst eine Musikliebhaberin und -Kennerin, du bist viel gereist und du verehrtest starke Frauen.
Am Nachmittag lenkte ich mich ab und ging in eine Buchhandlung. Plötzlich war da eine warme Stimme. Rhythmisch, tief, mich umarmend.
Lhasa de Sela „De cara a la pared“ – Mit dem Gesicht zur Wand. Es war wie ein Gruß von Dir. Es fängt an mit:

Llorando
De cara a la pared
Se apaga la ciudad
Llorando
Y no hay màs
Muero quizas
Adonde estàs?

Weinend
Mit dem Gesicht zur Wand
erlischt die Stadt
Weinend
und es gibt nichts mehr
ich sterbe vielleicht
wo bist du?

Wir hatten dieses Lied gemeinsam gehört. Du warst eine andächtige Hörerin.

La LLorona, die Weinende. Ist eine mythische Figur in Mexico. Sie soll als weiße Frau an Flüssen Menschen erscheinen, und deren Tod ankünden. Der Erzählung nach, sei es der Geist einer Frau, die ihre ertrunkenen Kinder in dem Fluss sucht, und nicht finden kann.
(Aus Verzweiflung vor ihrem gewalttätigen Mann, flüchtete sie mit ihren Kindern in die Fluten). Ihr Erscheinen soll bevorstehende Tode ankünden.

Gruselgeschichte zu Ende.

Es fühlt sich komisch an, dass Du nicht mehr da bist. Als wären wir zusammen auf eine Reise gegangen und du hättest einfach auf halben Weg umgedreht, mir nichts dir nichts, von heute auf morgen. (So war es nicht). Ich und vielleicht andere deiner Freundinnen auch, wollten es nicht wahr haben. Ich erinnere mich, ich schrieb dir zwei Monate vor deinem Tod, bis zum letzten Atemzug habe ich Hoffnung. Hoffnung auf Heilung.

Was ist wenn es gar nicht um Heilung geht, sondern um Erfahrung. Um Teilen dieser Erfahrung, einander beistehen und begleiten. Na gut, das haben wir. Dafür danke ich Dir. Und jetzt?

Im Buchgeschäft kaufte ich einen Reiseführer über Hawaii. Haleakala!
Ich schlage die Seite mit dem Foto des Haleakala – Vulkans auf. Ich lese Mondlandschaft. Brodeln im Untergrund.

Panoramic view of colorful Haleakala volcano in Maui from summit (c) Adobe Stock pictures/ mdlart



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