Oma Ernis Gesang – Tag 26+4

Oma Erni war meine Ikone. Sie machte als hundertjährige noch Gymnastik und flirtete mit den Menschen um sie herum. Sie liebte die Körper, aber vor allem die Blumen. Oma Erni, eigentlich Ernestine Kovacek’s Tür stand für die Nachbarschaft immer offen und manchmal musste man warten bis man sich mit ihr unterhalten konnte. Wenn aus ihrem Schlafzimmer, das auch Empfangszimmer war, leises Schluchzen kam, weil sich gerade mal wieder jemand bei ihr ausweinte. Oma Erni hatte ein großes Herz und große Ohren. Sie kannte jeden in unserem Haus und sie war allgegenwärtig.

Oft hörte man ihren Gesang durch das Haus hallen. Manchmal war es eine fröhliche Melodie, oder ein Pfeifen, das abwechselnd mit dem Zwitschern der Vögel erklang. Manchmal waren es aneinander hängende Töne, die schauerlich klangen.

Einmal, ich half gerade die Frühlingsblumen einzusetzen im Hof (Oma Erni betreute auch alle Blumen im Haus und veranstaltete Gartenpartys), dafür durfte ich Radieschen und Erdbeeren in ein eigenes kleinen Blumenkistel setzen, fragte ich sie schüchtern, aber meine Neugierde bewegte mich in diesem Moment zu sehr, warum sie manchmal so schöne und manchmal so unheimliche Musik machte.

Sie hörte auf mit umgraben und schaute mich lächelnd an.“ Findest du also? Du findest, ich singe nicht schön?“ Es war wahnsinnig peinlich. Ich wurde rot, so erdbeerig, wie meine zukünftigen Früchte, liefen meine Wangen an. „Nein, das wollte ich nicht. Entschuldigung.“

Sie lachte. “ Wenn ich dir jetzt sage, es ist gar keine Musik!“ Ich stutzte. Machte sie sich über mich lustig ? „Es ist Sprache. Bloß der Ausdruck von Stimme.“ Ich war perplex. Was wollte sie mir damit sagen. “ Nicht meine Stimme, sondern ihre!“ erklärte sie mir feierlich an diesem Nachmittag im April.

“ Hör mal zu. Es gibt so vieles um uns herum. Gegenstände, Menschen, Tiere, dazwischen wir mit unseren Körpern. Wenn es dir also unheimlich vorkommt, was du an Tönen erlauschst, dann muss ich dir sagen: im Gegenteil. Es sind die offenbarten Töne dessen, was uns umgibt. Und diese zu hören, ist ein Geschenk.. vielleicht unüblich sie zu hören, aber es sollte dir nicht unheimlich vorkommen. Ich habe es mir zur Gewohnheit gemacht, ihnen meine Stimme zu leihen und dann ihrem Ausdruck zu lauschen. Mit der Zeit bin ich mit ihnen so vertraut geworden im Hören, wie das Geräusch der Regentropfen, die auf die Fensterbänke klatschen.“

Sie klopfte mir freundschaftlich auf meine Schulter und fing wieder an zu graben. “ „Und kannst du das mit allem?“ Ein Marienkäfer lief neugierig an unserem Beet vorbei. Oma Erni machte ein hohes „Hiiiiii“ und fing dann laut zu lachen an. “ Frag mich nochmal, wenn du deinen nächsten Wackelzahn hast, dann probieren wir was aus!“ Der Marienkäfer flog weg. Waren wir ihm auch ein Rätsel?

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