Zähne, Postkarten und Kalender – Tag 31

Es gibt Menschen, die sind sentimental. Nennen wir mich Emilie. Wenn ich dereinst tot bin, und aus der Wohnung getragen werde, werden nach ein paar Wochen, die Verwandten und Freunde von Emilie durch die Wohnung gehen und wer mich überlebt und mit mir zusammengewohnt hat, wird auf die verschiedenen Haufen zeigen. Die Papiermassen. Ich stelle mir meine Mutter vor, auch wenn ich erwarte, aber erwarten kann man viel, dass ich sie überlebe, was sie empfindet, wenn sie meine Zähne findet. Wird sie lachen, wird sie geschockt sein? Ich habe eine Hassliebe zu meinen Zähnen. Vielleicht auch ein Fetischismus, der sich daraus entwickelt hat. Es begann alles mit dem 1er. Von ihm gibt es ungefähr 3 Exemplare. Vielleicht werde ich die Geschichte seines Verlusts mal in einer Geschichte erzählen. Für mich sind Zähne wie gute Freunde, und ihr Zustand erzählt viel über uns, aber auch über den Umgang mit Schmerz und Krankheit und Scham. Zähne berühren uns und seine Zähne kann man nicht verstecken.

Zurück zu den Papiermassen. Projekte, Gedanken, Reiserouten. Alte Zeitungen, Briefe, alte Fotografien von unbekannten Menschen. Eigene Fotografien, in Kisten. Weihnachtskarten von Freunden, ich werde sie demnächst reduzieren. Die armen-aber-süßen abgebildeten Kinder sind schon groß und studieren bereits.
Bücher. Viele Bücher. Büchern haftet was an. Ich liebe sie, wegen ihrem Versprechen, das man aus ihnen klug wird, dass es nichts gibt, über das nicht geschrieben wurde, dass ich aus ihnen Unbekanntes entdecken kann, manche behalte ich zum durchblättern aus Achtung für den oder die Autorin, dicke Bücher oder Geniales geschaffen zu haben. Das Lexikon der orientalischen Teppiche zum Beispiel. Ich liebe ihre Haptik und ihren Geruch. Ich lese sie selten als Unterhaltung, denn als Flucht vor meinem Nicht-Können und Nicht-wissen, oder als Flucht vor meinem Hiersein, meiner Existenz. Ich lese sie eher als Anregung, selten ganz zu Ende und noch seltener mehrmals. Alle paar Monate staple ich meine Bücher neu und finde zusammenhängende Kategorien. Im Moment sind die Kategorien „Anregendes und Inspiration, Belletristik“, „Weiterbildung und Fachliches“, „Umsetzen, Investments, Kreatives“, „Gesundheitsbücher“ „Frauenthemen“, „Erziehungsratgeber und Spiele“, „Reisen“, „Geborgtes“, „Rezepte“.

Papier. Ich besuche Papiergeschäfte, um mich gut zu fühlen und aufzuladen, wie andere Menschen meditieren oder in eine Kirche gehen. In fremden Städten kaufe ich Papier und Notizbücher und Postkarten, die nicht unbedingt die Landschaft, aber die Stimmung wiedergeben. Meine Großmutter sammelte auch Postkarten. Sie war meine Ikone. Ich dachte sehr lange, dass sie eine Weise Frau sei und noch als Jugendliche dachte ich, wie kann es sein, dass meine Großmutter alles versteht und von Geschichte und Kulturen an jedem Ort der Welt erzählt, als wäre sie dabei gewesen. Aber sie war einfach eine kluge, bescheidene Frau, die sich bis ins hohe Alter weiterbildete ( ihr letztes Hobby war chinesisch) sich Inhalte aus Büchern gut merkte und für die Bildung echte Unterhaltung war.

Kalender. Ich entdecke 18 Jahre alte Kalender und Notizblöcke mit Reiserouten in Südamerika. Adressen von Lokalen und Mitreisenden. Ich entdecke Themen, die mich heute noch beschäftigen und frage mich, können Menschen gleich bleiben, auch wenn sich äußerlich ihr ganzes Leben verändert hat? Die Sehnsucht, die Unsicherheit innen drin, die gefühlte Distanz zu meinen Mitmenschen. Ich gehe auf den Balkon und betrachte den Baum, den ich vor drei Jahren als kleinen Ableger aus der Lobau mitgenommen habe „Traubenkirsche!“ sage ich ihm. Dieses Jahr hatte er erstmals duftende Blüten und hat sich verraten. Ich verweile lange bei ihm. Manchmal brauchen Dinge lange Zeit, bis man sie versteht. „Ich mag Pflanzen lieber als Menschen.“ ist ein Gedanke am Balkon. Ich weiß, dass ich früher sehr einsame Momente hatte. In der Nacht draußen im Wald vor dem Haus stehen, wo eine Gruppe Gleichaltriger trinkt und feiert und das jung sein genießt und ich stehe und wünsche mich weg zu den Sternen. Ich schließe den Balkon ab und gehe zu meinem Sohn ins Zimmer und betrachte ihn in seinem Schlaf. Sein Anblick rührt mich. Jedes Mal. Schlafend und wach. Ich fühle, es ist gar nicht wahr. Ein Gefühl der Zuneigung und Liebe und so vieles, das tief in mir verwurzelt ist. Etwas das bleibt. über Leben hinaus. Seines, meines.
Also Stapel um mich herum, Zähne und Papier. Was für eine Bedeutung nochmal genau habt ihr in meinem Leben? Vergangenes. vergeht.


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